WUNDERBARER TIVOLI
Die ganze Welt des Vergnügens
Wer in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts nach Hamburg reiste und sich ein Zimmer in Altona nahm, der erinnert sich vielleicht an die Aufkleber, die überall zu sehen waren. Eine Gruppe von Alternativen, die eine sozialdemokratische Politik nach dem Vorbild Skandinaviens anstrebte, machte auf sich aufmerksam: „Altona zurück an Dänemark!“ Nicht zufällig, denn tatsächlich reichte Dänemark einst bis vor die Tore Hamburgs, das änderte sich erst im 19. Jahrhundert. So ist es auch keineswegs verwunderlich, dass der wichtigste in Hamburg lebende Komponist der Barockzeit ein Naheverhältnis zu Dänemark pflegte. Georg Philipp Telemann, Musikdirektor, Verleger und Kantor, komponierte sogar Werke auf Dänisch. Hier liegt die Wurzel des heutigen Programms.
Dänemark erschien in den 80ern als eine Art „gelobtes Land“, mit einer Kunst, die nicht elitär sondern für jedermann (oder jedefrau, wie man/frau damals schon sagte) gedacht war und von Architekten wie Verner Panton geprägt wurde. Dessen Einrichtung des SPIEGEL-Hochhauses an der Elbe war eine Sensation. Schönheit sollte erschwinglich sein, postulierten die Skandinavier*innen und gestatteten sich keinen Hochmut in ihrem Schaffen. Aber da war noch viel mehr: die Tatsache, dass die Dänen in der Besatzungszeit durch die Nazis fast alle ihre jüdischen Mitbürger*innen vor dem Holocaust retteten, warf ein so ermutigendes wie gnadenloses Licht auf all die Ausflüchte der Leute, die immer noch davon redeten, man hätte das alles ja nicht wissen können.
Dänemark fasziniert. Wir lieben Kopenhagen, lieben den Tivoli inmitten der Stadt, einen der ältesten Vergnügungsparks der Welt. Wien hat mit dem Prater etwas ganz Ähnliches, aber das ist eine andere Geschichte. Die Soziologin Johanna Niedbalski schreibt in ihrem Standardwerk „Die ganze Welt des Vergnügens“ über die großen, traditionellen Gärten zur Unterhaltung: „Vergnügungsparks waren Orte eines urbanen, öffentlichen, populären, kommerziell ausgerichteten Freizeitvergnügens. Sie lagen in oder nahe bei Städten und sie vereinten auf einem klar umgrenzten und meist eingezäunten Areal ein breites, vielseitiges Programm diverser unterhaltsamer Darbietungen und Attraktionen. Ihr Vergnügungsangebot fand weitgehend im Freien statt; die Parks waren in der Regel nur im Sommer geöffnet. Ihr Programm verband verschiedene Traditionslinien: Komponenten aus Sommerlokalen, Jahrmärkten und Rummelplätzen, vergnügliche Elemente der (Welt-)Ausstellungen und diverse urbane, zeitgenössische Freizeitangebote verschmolzen zu einem Angebots-›Potpourri‹. Dieses Potpourri umfasste Jahrmarktsattraktionen wie Fahr-, Belustigungs- und Schaugeschäfte, Glücksspiele und ähnliches, aber auch technische Innovationen, Tanzveranstaltungen, Feste, Feuerwerke, Konzerte, Sportevents, Ausstellungen exotisch erscheinender Menschen, gehobene Ausflugsgastronomie und aufwändige Grünanlagen.“
Was für den Kopenhagener Tivoli besonders wichtig ist: die Theater- und Konzertaufführungen waren und sind durchaus nicht „minderwertig“ gegenüber den Angeboten in der übrigen Stadt. Es gibt Sinfoniekonzerte und anspruchsvolles Ballett, immer im Geiste der Vermittlung von Inhalten. Schönheit und Qualität soll allen zugänglich sein.
Eben jenes Ziel leitet auch uns als Künstler*innenkollektiv Ārt House. Wir wollen mit Musik Geschichten erzählen und nutzen dafür alle möglichen Arten von Künsten. Über viele Jahrhunderte erklang Musik in Kontexten, nicht um ihrer selbst willen. Musik war Repräsentation der Mächtigen, Unterhaltung bei Tätigkeiten, Anleitung zu spiritueller Versenkung oder gar eine Möglichkeit, Arbeitsschritte von Gruppen zu koordinieren, vom Rudern bis zum Marschieren. Und natürlich existierte Musik zum Selbermachen. Das „klassische Konzert“ hingegen ist ein Sonderfall der Musikgeschichte. Es stammt aus dem bürgerlichen Zeitalter und versucht nichts anderes, als die Kunst auf den Platz zu setzen, auf dem sich die Religion befand, bevor die Aufklärung die alles durchdringende Macht des Glaubens zunächst in Frage stellte und dann brach.
Doch die Musik, die für diese Situationen geschaffen wurde, umfasst gerade einmal gut 150 Jahre der Musikgeschichte. Die meiste Musik, die den Schatz der Kunst ausmacht, ist weder für den Konzertsaal gedacht, noch unter den Regeln des Konzertsaales aufgeführt worden. Wir wollen deshalb nicht mehr jede Musik durch die Brille des romantischen Konzertbetriebes betrachten, sondern müssen statt dessen die ganze Vielfalt der musikalischen Möglichkeiten begreifen.
Deshalb haben wir das Schweizer Akrobatenduo E1NZ eingeladen, mit uns zu Musik von Telemann in den Tivoli zu kommen. Dessen Leitfigur ist übrigens ein Clown: der weiß geschminkte Pierrot mit einem übergroßen, roten Grinsemund, der schon im 19. Jahrhundert im traditionellen „Pantomimeteatret“, einem Haus in chinesischem Stil, zu sehen war. Adrian Schvarzstein wird ihn für uns zum Leben erwecken - in unserem wunderbaren Tivoli.
Ich selbst habe, um die Stimmung einzufangen, einen Text über den Tivoli geschrieben, und Flora Marlene Geißelbrecht, für dich ich schon ein kleines Opernlibretto unter dem Titel „Die Musen des Parnaß“ schreiben durfte, hat den Text vertont. Viola da Gamba und Cembalo unterlegen, umranken und konterkarieren den Text, greifen die Stimmungen auf, spielen sie weiter und schaffen am Ende einen ebenso verzaubernden wie verzauberten Klangraum. Der Rest des Programms dagegen ist einem berühmten Barockkomponisten gewidmet: Georg Philipp Telemann.
„Gauckler, Seiltänzer, Spielmann, Murmelthierführer“
Man kann es nicht oft genug und deutlich genug sagen, dass Georg Philipp Telemann einer der bedeutendsten, wichtigsten und atemberaubendsten Komponist*innen überhaupt ist. Dass sein Ruf gegenüber Genies wie Bach oder Mozart zurücksteht, ist keineswegs seinem Werk anzulasten, sondern im Gegenteil seinem Ruhm. Telemann war nämlich zu Lebzeiten gefeiert wie kaum ein anderer, und er wusste sich sowohl in Frankreich wie Italien oder Deutschland zu verkaufen. Genau diese Internationalität hat man ihm später zum Vorwurf gemacht. Wie Händel oder später Meyerbeer konnte er sich mühelos in unterschiedlichen Stilen ausdrücken. Das machte ihn der ersten Generation der deutschen Nationalisten sehr verdächtig. In deren Nachfolge sprachen deutsche Musikgelehrte Telemann jede individuelle Qualität ab.
Telemann galt als „Vielschreiber“ - und tatsächlich: es sind wirklich viele Werke von ihm erhalten geblieben. Haben von Johann Sebastian Bachs Kantaten gerade mal gut 200 überlebt (was uns gigantisch vorkommt), sind es von Telemann gut 1.750 Kantaten. Und zwar durchweg von hinreißender musikalischer Qualität. Dazu kommen über 40 Passionen und unüberschaubar viele Instrumentalwerke. Nur dass all diese Werke eben nicht stereotyp sind, sondern unglaublich wandelbar, vielfältig und immer wieder überraschend. Im Laufe seines langen Lebens - Telemann wurde 86 Jahre alt - nahm er nicht nur unterschiedliche Einflüsse auf, sondern prägte seinerseits den Musikgeschmack.
Eine ganz besondere Eigenschaft zeichnet Telemann jedoch vor fast allen seinen Zeitgenossen besonders aus: der Mann hatte Humor. Und genau um diese Eigenschaft wird es heute im Konzert von Ārt House 17 gehen. Da es eine Moderation gibt, sollen diese Zeilen ein paar zusätzliche Hintergrundinformationen geben, für die im Konzert selbst kein Platz ist.
Doch lassen wir dazu den Meister selbst zu Wort kommen. Telemann ließ sich nämlich von seinem Kollegen Johann Mattheson dazu überreden, eine ausführliche Autobiographie zu schreiben, die Mattheson im Jahre 1744 drucken ließ. Und im Gegensatz zu so hochmütigen Geistern wie dem kaiserlichen Hofkapellmeister Johann Joseph Fux, der Mattheson geruhte mitzuteilen, es genüge, dass die Welt wisse, dass Fux der allerhöchsten Majestät Kapellmeister sei, schrieb Telemann eine ausführliche Abhandlung, durch die wir wirklich viel über ihn erfahren können. Vor allem, dass Telemann selbst einen außergewöhnlichen Sinn für Humor hatte. So berichtet er von seiner Schulzeit: „In den kleinern Schulen lernte ich das gewöhnliche, nemlich Lesen, Schreiben, den Catechismum und etwas Latein; ergriff aber auch zuletzt die Violine, Flöte und Cither, womit ich die Nachbarn belustigte, ohne zu wissen, ob Noten in der Welt wären.“
Offensichtlich war Telemann ein musikalisches Wunderkind, weshalb er schon bald selbst den Kantor der Kirche übertraf. Der freilich durfte das nicht mitbekommen: „In der Musik bin ich, binnen wenig Wochen so viel begriffen, daß der Cantor mich, an seiner Statt, die Singestunden halten ließ, ob gleich meine Untergebne weit über mir hervorrageten. Während dieser Zeit componirte er; so bald er aber den Rücken wandte, besahe ich seine Partituren, und fand immer etwas darin, so mich ergetzte; warum aber? das war mir verborgen. Gnug, ich wurde dadurch veranlasset, allerhand Musik zusammen zu raffen, die ich in Partituren schrieb, und emsig in selbigen laß, mithin immer mehr Licht bekam: biß ich endlich, mit Ehren zu melden, selbst anfing zu componiren; aber doch in aller Stille.“
Die Familie Telemanns war allerdings strikt dagegen, dass sich der Kleine aufs Musikmachen verlegte. So verbat man ihm ausdrücklich auch das Komponieren. Der kleine Telemann ließ sich dadurch jedoch nicht abschrecken, sondern erfand für sich ein Pseudonym, unter dem er weiter Noten setzte: „Inzwischen wußte ich, mit Unterschreibung eines erdichteten Nahmens, mein Machwerck in des Cantoris und Präfecti Hände zu spielen, da ich es denn theils in der Kirche, theils auf der Gasse, und auch zugleich den neuen Verfasser aufs beste loben hörte.“
Im Rausch des Erfolges machte sich der Zwölfjährige daran, eigenhändig eine Oper zu schreiben und diese unter falschem Namen einzureichen. Tatsächlich wurde die Oper angekauft und sogar aufgeführt: „Dies machte mich so kühn, daß ich eine ertappte hamburger Oper, Sigismundus, etwa im zwölfften Jahr meines Alters, in die Musik setzte, welche auch auf einer errichteten Bühne toll genug abgesungen wurde, und wobey ich selbst meinen Held ziemlich trotzig vorstellte. Ich mögte diese Musik wohl itzt sehen, wenn mir der Kopf nicht recht stehet.“
Das konnte natürlich nicht lange gut gehen, schließlich wurde Telemann erwischt: „Ach! aber, welch ein Ungewitter zog ich mir durch besagte Oper über den Hals! die Musik-Feinde kamen mit Schaaren zu meiner Mutter, und stellten ihr vor: Ich würde ein Gauckler, Seiltänzer, Spielmann, Murmelthierführer etc. werden, wenn mir die Musik nicht entzogen würde. Gesagt, gethan! mir wurden Noten, Instrumente, und mit ihnen das halbe Leben genommen.“
Zum Glück ist es anders gekommen. Telemann vermochte die Musik zu seinem Lebensinhalt zu machen. Ab 1705 als Kapellmeister des Grafen in Sorau, zwischen 1708 und 1712 als Konzert- und Hofkapellmeister in Eisenach, von 1712 bis 1721 als Kapellmeister und Leiter des Collegium musicum in der Freien Reichs- und Messestadt Frankfurt am Main und endlich in der Freien Reichs- und Hansestadt Hamburg.
Die Bezeichnung der G-Dur-Ouvertüre »La Putain« („Die Dirne“ oder „Die Hure“) stammt nicht von Telemann selbst. Überhaupt verfügen wir heute nur über einen Satz von Stimmen ohne Angabe eines Verfassers, angefertigt vom Komponisten Johann Samuel Endler, der zahlreiche Orchesterwerke Telemanns kopierte und mit nach Darmstadt nahm, wo er wirkte. Doch ebenso wie die heute zum Konzertende erklingende Nationen-Ouvertüre, die ebenfalls weder Titel noch Verfasser enthält und von Endler kopiert wurde, gibt es keine Zweifel an der Autorenschaft Telemanns. Was genau der Komponist in der Suite portraitiert, können wir nicht mehr feststellen, aber die Satzbezeichnungen lassen zumindest ahnen, dass wir einer ländlichen Gesellschaft und einem leichtlebigen Mädchen folgen. Die Volksfeststimmung geht schon in der dreiteiligen Ouvertüre auf, bei der die langsamen Eckteile einen schnellen Mittelteil umschließen, in dem eine ganze Reihe von Volksliedern zitiert werden, unter anderem »Ich bin so lang nicht bei dir gewest, ruck her, ruck her, ruck her«, das Johann Sebastian Bach später im Quodlibet seiner Goldberg-Variationen verwenden wird. Außerdem erleben wir eine irritierende „Schneckenpost“, eine völlig aufgedrehte „Bauern Kirchweyh“, einen wildgewordenen „Hexen-Tantz“ und einen Besuch in der ungezieferverseuchten „Laußherberg“, wo alles übereinander krabbelt, was lästig und ansteckend ist. Wer allerdings die „Baass Lissabeth“ und der „Vetter Michel Ziehbart“ sind, bleibt des Komponisten Geheimnis… wir müssen es uns selbst vorstellen.
Das Concerto F-Dur TWV 51:F1 für Blockflöte ist eines von den nur zwei zweifelsfrei von Telemann überlieferten Blockflötenkonzerten. Sind die Ouvertüren des heutigen Programms stark den französischen Einflüssen zuzuordnen, so ist das Konzert ganz und gar im italienischen Stil gehalten. Zwei wunderschöne kantable Sätze umrahmen ein virtuos-schnelles Allegro, das wie ein Sturm auf der Opernbühne dahinbraust. Und ein virtuoses und doch leichtfüßiges Menuett schließt die Szene.
Es ist wohl nicht zu weit hergeholt, die wahrscheinlich vor 1723 komponierte Ouvertürensuite »Les Nations«, auch Völker-Ouvertüre genannt, nicht als simplen Spaß zu begreifen, sondern als eine moralische Reaktion des Komponisten auf den „Großen Nordischen Krieg“. Sarah-Denise Fabian belegt in ihrer Maßstäbe setzenden Arbeit über „Witz und Humor in Ouvertürensuiten Georg Philipp Telemanns“, die programmatische Absicht hinter den zunächst harmlos klingenden Scherzen über verschiedene Nationen. Telemann charakterisiert in den einzelnen Sätzen eine ganz spezielle Auswahl von Nationen musikalisch. Aber nicht, indem er etwa landestypische Weisen benutzt, sondern den einzelnen Nationen Charaktereigenschaften zuweist. Dabei geht er paarweise vor, indem er zwei „friedlichen“ Nationen zwei „kriegerische“ gegenüberstellt… was natürlich alles Vorurteile sind, in den sehr zeittypischen Physiognomien des Barock allerdings lebhafte Verbreitung findet. So kommen die Schweizer ernsthaft, klar und schlicht herüber, durchaus könnte man sie als gemessen und langweilig bezeichnen. Die Portugiesen sind dagegen deutlich lebhafter, aber ebenso wenig aggressiv und ganz und gar freundlich. Die Türken zeichnet Telemann hingegen ganz dem Klischee entsprechend als kriegerisch und aufgebracht, mit dem Trommeln und Scheppern der Janitscharen. Mindestens ebenso gefährlich und unheimlich erscheinen die Russen oder „Moskowiter“. Bedrohlich schwellen die unablässig läutenden Glocken des Kreml an und verkünden die Machtansprüche des Zarenreiches. In einem wunderbaren Finale lässt Telemann dann anklingen, was passiert, wenn schließlich ein Krieg ausbricht. Egal ob Angreifer oder Verteidiger, egal ob im Recht oder im Unrecht: am Ende sind alle Beteiligte geschlagene Menschen. Und das einzige, was sie tun können, ist, sich in Sicherheit zu bringen. Statt heroisch zu kämpfen, zeigt Telemann Menschen, die davonlaufen (Les Coureurs) oder weghinken (Les Boiteux).
Thomas Höft, 2022
Die ganze Welt des Vergnügens
Wer in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts nach Hamburg reiste und sich ein Zimmer in Altona nahm, der erinnert sich vielleicht an die Aufkleber, die überall zu sehen waren. Eine Gruppe von Alternativen, die eine sozialdemokratische Politik nach dem Vorbild Skandinaviens anstrebte, machte auf sich aufmerksam: „Altona zurück an Dänemark!“ Nicht zufällig, denn tatsächlich reichte Dänemark einst bis vor die Tore Hamburgs, das änderte sich erst im 19. Jahrhundert. So ist es auch keineswegs verwunderlich, dass der wichtigste in Hamburg lebende Komponist der Barockzeit ein Naheverhältnis zu Dänemark pflegte. Georg Philipp Telemann, Musikdirektor, Verleger und Kantor, komponierte sogar Werke auf Dänisch. Hier liegt die Wurzel des heutigen Programms.
Dänemark erschien in den 80ern als eine Art „gelobtes Land“, mit einer Kunst, die nicht elitär sondern für jedermann (oder jedefrau, wie man/frau damals schon sagte) gedacht war und von Architekten wie Verner Panton geprägt wurde. Dessen Einrichtung des SPIEGEL-Hochhauses an der Elbe war eine Sensation. Schönheit sollte erschwinglich sein, postulierten die Skandinavier*innen und gestatteten sich keinen Hochmut in ihrem Schaffen. Aber da war noch viel mehr: die Tatsache, dass die Dänen in der Besatzungszeit durch die Nazis fast alle ihre jüdischen Mitbürger*innen vor dem Holocaust retteten, warf ein so ermutigendes wie gnadenloses Licht auf all die Ausflüchte der Leute, die immer noch davon redeten, man hätte das alles ja nicht wissen können.
Dänemark fasziniert. Wir lieben Kopenhagen, lieben den Tivoli inmitten der Stadt, einen der ältesten Vergnügungsparks der Welt. Wien hat mit dem Prater etwas ganz Ähnliches, aber das ist eine andere Geschichte. Die Soziologin Johanna Niedbalski schreibt in ihrem Standardwerk „Die ganze Welt des Vergnügens“ über die großen, traditionellen Gärten zur Unterhaltung: „Vergnügungsparks waren Orte eines urbanen, öffentlichen, populären, kommerziell ausgerichteten Freizeitvergnügens. Sie lagen in oder nahe bei Städten und sie vereinten auf einem klar umgrenzten und meist eingezäunten Areal ein breites, vielseitiges Programm diverser unterhaltsamer Darbietungen und Attraktionen. Ihr Vergnügungsangebot fand weitgehend im Freien statt; die Parks waren in der Regel nur im Sommer geöffnet. Ihr Programm verband verschiedene Traditionslinien: Komponenten aus Sommerlokalen, Jahrmärkten und Rummelplätzen, vergnügliche Elemente der (Welt-)Ausstellungen und diverse urbane, zeitgenössische Freizeitangebote verschmolzen zu einem Angebots-›Potpourri‹. Dieses Potpourri umfasste Jahrmarktsattraktionen wie Fahr-, Belustigungs- und Schaugeschäfte, Glücksspiele und ähnliches, aber auch technische Innovationen, Tanzveranstaltungen, Feste, Feuerwerke, Konzerte, Sportevents, Ausstellungen exotisch erscheinender Menschen, gehobene Ausflugsgastronomie und aufwändige Grünanlagen.“
Was für den Kopenhagener Tivoli besonders wichtig ist: die Theater- und Konzertaufführungen waren und sind durchaus nicht „minderwertig“ gegenüber den Angeboten in der übrigen Stadt. Es gibt Sinfoniekonzerte und anspruchsvolles Ballett, immer im Geiste der Vermittlung von Inhalten. Schönheit und Qualität soll allen zugänglich sein.
Eben jenes Ziel leitet auch uns als Künstler*innenkollektiv Ārt House. Wir wollen mit Musik Geschichten erzählen und nutzen dafür alle möglichen Arten von Künsten. Über viele Jahrhunderte erklang Musik in Kontexten, nicht um ihrer selbst willen. Musik war Repräsentation der Mächtigen, Unterhaltung bei Tätigkeiten, Anleitung zu spiritueller Versenkung oder gar eine Möglichkeit, Arbeitsschritte von Gruppen zu koordinieren, vom Rudern bis zum Marschieren. Und natürlich existierte Musik zum Selbermachen. Das „klassische Konzert“ hingegen ist ein Sonderfall der Musikgeschichte. Es stammt aus dem bürgerlichen Zeitalter und versucht nichts anderes, als die Kunst auf den Platz zu setzen, auf dem sich die Religion befand, bevor die Aufklärung die alles durchdringende Macht des Glaubens zunächst in Frage stellte und dann brach.
Doch die Musik, die für diese Situationen geschaffen wurde, umfasst gerade einmal gut 150 Jahre der Musikgeschichte. Die meiste Musik, die den Schatz der Kunst ausmacht, ist weder für den Konzertsaal gedacht, noch unter den Regeln des Konzertsaales aufgeführt worden. Wir wollen deshalb nicht mehr jede Musik durch die Brille des romantischen Konzertbetriebes betrachten, sondern müssen statt dessen die ganze Vielfalt der musikalischen Möglichkeiten begreifen.
Deshalb haben wir das Schweizer Akrobatenduo E1NZ eingeladen, mit uns zu Musik von Telemann in den Tivoli zu kommen. Dessen Leitfigur ist übrigens ein Clown: der weiß geschminkte Pierrot mit einem übergroßen, roten Grinsemund, der schon im 19. Jahrhundert im traditionellen „Pantomimeteatret“, einem Haus in chinesischem Stil, zu sehen war. Adrian Schvarzstein wird ihn für uns zum Leben erwecken - in unserem wunderbaren Tivoli.
Ich selbst habe, um die Stimmung einzufangen, einen Text über den Tivoli geschrieben, und Flora Marlene Geißelbrecht, für dich ich schon ein kleines Opernlibretto unter dem Titel „Die Musen des Parnaß“ schreiben durfte, hat den Text vertont. Viola da Gamba und Cembalo unterlegen, umranken und konterkarieren den Text, greifen die Stimmungen auf, spielen sie weiter und schaffen am Ende einen ebenso verzaubernden wie verzauberten Klangraum. Der Rest des Programms dagegen ist einem berühmten Barockkomponisten gewidmet: Georg Philipp Telemann.
„Gauckler, Seiltänzer, Spielmann, Murmelthierführer“
Man kann es nicht oft genug und deutlich genug sagen, dass Georg Philipp Telemann einer der bedeutendsten, wichtigsten und atemberaubendsten Komponist*innen überhaupt ist. Dass sein Ruf gegenüber Genies wie Bach oder Mozart zurücksteht, ist keineswegs seinem Werk anzulasten, sondern im Gegenteil seinem Ruhm. Telemann war nämlich zu Lebzeiten gefeiert wie kaum ein anderer, und er wusste sich sowohl in Frankreich wie Italien oder Deutschland zu verkaufen. Genau diese Internationalität hat man ihm später zum Vorwurf gemacht. Wie Händel oder später Meyerbeer konnte er sich mühelos in unterschiedlichen Stilen ausdrücken. Das machte ihn der ersten Generation der deutschen Nationalisten sehr verdächtig. In deren Nachfolge sprachen deutsche Musikgelehrte Telemann jede individuelle Qualität ab.
Telemann galt als „Vielschreiber“ - und tatsächlich: es sind wirklich viele Werke von ihm erhalten geblieben. Haben von Johann Sebastian Bachs Kantaten gerade mal gut 200 überlebt (was uns gigantisch vorkommt), sind es von Telemann gut 1.750 Kantaten. Und zwar durchweg von hinreißender musikalischer Qualität. Dazu kommen über 40 Passionen und unüberschaubar viele Instrumentalwerke. Nur dass all diese Werke eben nicht stereotyp sind, sondern unglaublich wandelbar, vielfältig und immer wieder überraschend. Im Laufe seines langen Lebens - Telemann wurde 86 Jahre alt - nahm er nicht nur unterschiedliche Einflüsse auf, sondern prägte seinerseits den Musikgeschmack.
Eine ganz besondere Eigenschaft zeichnet Telemann jedoch vor fast allen seinen Zeitgenossen besonders aus: der Mann hatte Humor. Und genau um diese Eigenschaft wird es heute im Konzert von Ārt House 17 gehen. Da es eine Moderation gibt, sollen diese Zeilen ein paar zusätzliche Hintergrundinformationen geben, für die im Konzert selbst kein Platz ist.
Doch lassen wir dazu den Meister selbst zu Wort kommen. Telemann ließ sich nämlich von seinem Kollegen Johann Mattheson dazu überreden, eine ausführliche Autobiographie zu schreiben, die Mattheson im Jahre 1744 drucken ließ. Und im Gegensatz zu so hochmütigen Geistern wie dem kaiserlichen Hofkapellmeister Johann Joseph Fux, der Mattheson geruhte mitzuteilen, es genüge, dass die Welt wisse, dass Fux der allerhöchsten Majestät Kapellmeister sei, schrieb Telemann eine ausführliche Abhandlung, durch die wir wirklich viel über ihn erfahren können. Vor allem, dass Telemann selbst einen außergewöhnlichen Sinn für Humor hatte. So berichtet er von seiner Schulzeit: „In den kleinern Schulen lernte ich das gewöhnliche, nemlich Lesen, Schreiben, den Catechismum und etwas Latein; ergriff aber auch zuletzt die Violine, Flöte und Cither, womit ich die Nachbarn belustigte, ohne zu wissen, ob Noten in der Welt wären.“
Offensichtlich war Telemann ein musikalisches Wunderkind, weshalb er schon bald selbst den Kantor der Kirche übertraf. Der freilich durfte das nicht mitbekommen: „In der Musik bin ich, binnen wenig Wochen so viel begriffen, daß der Cantor mich, an seiner Statt, die Singestunden halten ließ, ob gleich meine Untergebne weit über mir hervorrageten. Während dieser Zeit componirte er; so bald er aber den Rücken wandte, besahe ich seine Partituren, und fand immer etwas darin, so mich ergetzte; warum aber? das war mir verborgen. Gnug, ich wurde dadurch veranlasset, allerhand Musik zusammen zu raffen, die ich in Partituren schrieb, und emsig in selbigen laß, mithin immer mehr Licht bekam: biß ich endlich, mit Ehren zu melden, selbst anfing zu componiren; aber doch in aller Stille.“
Die Familie Telemanns war allerdings strikt dagegen, dass sich der Kleine aufs Musikmachen verlegte. So verbat man ihm ausdrücklich auch das Komponieren. Der kleine Telemann ließ sich dadurch jedoch nicht abschrecken, sondern erfand für sich ein Pseudonym, unter dem er weiter Noten setzte: „Inzwischen wußte ich, mit Unterschreibung eines erdichteten Nahmens, mein Machwerck in des Cantoris und Präfecti Hände zu spielen, da ich es denn theils in der Kirche, theils auf der Gasse, und auch zugleich den neuen Verfasser aufs beste loben hörte.“
Im Rausch des Erfolges machte sich der Zwölfjährige daran, eigenhändig eine Oper zu schreiben und diese unter falschem Namen einzureichen. Tatsächlich wurde die Oper angekauft und sogar aufgeführt: „Dies machte mich so kühn, daß ich eine ertappte hamburger Oper, Sigismundus, etwa im zwölfften Jahr meines Alters, in die Musik setzte, welche auch auf einer errichteten Bühne toll genug abgesungen wurde, und wobey ich selbst meinen Held ziemlich trotzig vorstellte. Ich mögte diese Musik wohl itzt sehen, wenn mir der Kopf nicht recht stehet.“
Das konnte natürlich nicht lange gut gehen, schließlich wurde Telemann erwischt: „Ach! aber, welch ein Ungewitter zog ich mir durch besagte Oper über den Hals! die Musik-Feinde kamen mit Schaaren zu meiner Mutter, und stellten ihr vor: Ich würde ein Gauckler, Seiltänzer, Spielmann, Murmelthierführer etc. werden, wenn mir die Musik nicht entzogen würde. Gesagt, gethan! mir wurden Noten, Instrumente, und mit ihnen das halbe Leben genommen.“
Zum Glück ist es anders gekommen. Telemann vermochte die Musik zu seinem Lebensinhalt zu machen. Ab 1705 als Kapellmeister des Grafen in Sorau, zwischen 1708 und 1712 als Konzert- und Hofkapellmeister in Eisenach, von 1712 bis 1721 als Kapellmeister und Leiter des Collegium musicum in der Freien Reichs- und Messestadt Frankfurt am Main und endlich in der Freien Reichs- und Hansestadt Hamburg.
Die Bezeichnung der G-Dur-Ouvertüre »La Putain« („Die Dirne“ oder „Die Hure“) stammt nicht von Telemann selbst. Überhaupt verfügen wir heute nur über einen Satz von Stimmen ohne Angabe eines Verfassers, angefertigt vom Komponisten Johann Samuel Endler, der zahlreiche Orchesterwerke Telemanns kopierte und mit nach Darmstadt nahm, wo er wirkte. Doch ebenso wie die heute zum Konzertende erklingende Nationen-Ouvertüre, die ebenfalls weder Titel noch Verfasser enthält und von Endler kopiert wurde, gibt es keine Zweifel an der Autorenschaft Telemanns. Was genau der Komponist in der Suite portraitiert, können wir nicht mehr feststellen, aber die Satzbezeichnungen lassen zumindest ahnen, dass wir einer ländlichen Gesellschaft und einem leichtlebigen Mädchen folgen. Die Volksfeststimmung geht schon in der dreiteiligen Ouvertüre auf, bei der die langsamen Eckteile einen schnellen Mittelteil umschließen, in dem eine ganze Reihe von Volksliedern zitiert werden, unter anderem »Ich bin so lang nicht bei dir gewest, ruck her, ruck her, ruck her«, das Johann Sebastian Bach später im Quodlibet seiner Goldberg-Variationen verwenden wird. Außerdem erleben wir eine irritierende „Schneckenpost“, eine völlig aufgedrehte „Bauern Kirchweyh“, einen wildgewordenen „Hexen-Tantz“ und einen Besuch in der ungezieferverseuchten „Laußherberg“, wo alles übereinander krabbelt, was lästig und ansteckend ist. Wer allerdings die „Baass Lissabeth“ und der „Vetter Michel Ziehbart“ sind, bleibt des Komponisten Geheimnis… wir müssen es uns selbst vorstellen.
Das Concerto F-Dur TWV 51:F1 für Blockflöte ist eines von den nur zwei zweifelsfrei von Telemann überlieferten Blockflötenkonzerten. Sind die Ouvertüren des heutigen Programms stark den französischen Einflüssen zuzuordnen, so ist das Konzert ganz und gar im italienischen Stil gehalten. Zwei wunderschöne kantable Sätze umrahmen ein virtuos-schnelles Allegro, das wie ein Sturm auf der Opernbühne dahinbraust. Und ein virtuoses und doch leichtfüßiges Menuett schließt die Szene.
Es ist wohl nicht zu weit hergeholt, die wahrscheinlich vor 1723 komponierte Ouvertürensuite »Les Nations«, auch Völker-Ouvertüre genannt, nicht als simplen Spaß zu begreifen, sondern als eine moralische Reaktion des Komponisten auf den „Großen Nordischen Krieg“. Sarah-Denise Fabian belegt in ihrer Maßstäbe setzenden Arbeit über „Witz und Humor in Ouvertürensuiten Georg Philipp Telemanns“, die programmatische Absicht hinter den zunächst harmlos klingenden Scherzen über verschiedene Nationen. Telemann charakterisiert in den einzelnen Sätzen eine ganz spezielle Auswahl von Nationen musikalisch. Aber nicht, indem er etwa landestypische Weisen benutzt, sondern den einzelnen Nationen Charaktereigenschaften zuweist. Dabei geht er paarweise vor, indem er zwei „friedlichen“ Nationen zwei „kriegerische“ gegenüberstellt… was natürlich alles Vorurteile sind, in den sehr zeittypischen Physiognomien des Barock allerdings lebhafte Verbreitung findet. So kommen die Schweizer ernsthaft, klar und schlicht herüber, durchaus könnte man sie als gemessen und langweilig bezeichnen. Die Portugiesen sind dagegen deutlich lebhafter, aber ebenso wenig aggressiv und ganz und gar freundlich. Die Türken zeichnet Telemann hingegen ganz dem Klischee entsprechend als kriegerisch und aufgebracht, mit dem Trommeln und Scheppern der Janitscharen. Mindestens ebenso gefährlich und unheimlich erscheinen die Russen oder „Moskowiter“. Bedrohlich schwellen die unablässig läutenden Glocken des Kreml an und verkünden die Machtansprüche des Zarenreiches. In einem wunderbaren Finale lässt Telemann dann anklingen, was passiert, wenn schließlich ein Krieg ausbricht. Egal ob Angreifer oder Verteidiger, egal ob im Recht oder im Unrecht: am Ende sind alle Beteiligte geschlagene Menschen. Und das einzige, was sie tun können, ist, sich in Sicherheit zu bringen. Statt heroisch zu kämpfen, zeigt Telemann Menschen, die davonlaufen (Les Coureurs) oder weghinken (Les Boiteux).
Thomas Höft, 2022